Gesundheit

Infektionskrankheiten prägten die Entwicklung der Menschheit

Infektionskrankheiten gehören seit je zu den häufigsten Todesursachen. Deren Vermeidung war deshalb für das Überleben und die Entwicklung der Menschheit zentral. Die gleichen Schutzmechanismen, die uns über Jahrtausende vorangebracht haben, können heute jedoch zur Diskriminierung von Kranken führen, wie Psychologen gezeigt haben.

In den letzten Jahren haben Forscher wie Jonathan Haidt, Paul Rozin, Clark McCauley oder David Pizarro nachgewiesen, welch wichtige Rolle im Kampf gegen Infektionskrankheiten und bei der Entwicklung der Menschheit das Gefühl des Ekels gespielt hat. Ekel gegenüber Fäkalien, Gerüchen von Verdorbenem und Ähnlichem schützten ursprünglich den Menschen vor der Aufnahme vergifteter Nahrung.

Daraus entwickelte sich während der kulturellen Evolution ein ganzes Wächtersystem der sozialen und moralischen Ordnung. Die Menschen grenzten sich mit Ekel ab von grausigen Dingen, die sie für gefährlich hielten. Sie kommunizierten diese Gefühle in ihren Gemeinschaften, entwickelten Regeln dazu und stellten Tabus auf.

Ekel wurde in der Gesellschaft eingesetzt, um soziale Normen, zum Beispiel Sauberkeit und Hygiene, durchzusetzen. Wer sich nicht an diese sozialen und moralischen Regeln hielt, wurde beschämt, ausgegrenzt und ausgeschlossen.

Daraus entwickelten sich Manieren und religiöse Gebote, lange bevor es Gesetze und Polizisten gab, die diese durchsetzten. Ekel spielte daher eine wichtige Rolle für die öffentliche Gesundheit. Er brachte die Menschen dazu, zusammenzuarbeiten und Zivilisationen aufzubauen. Das Ganze hat aber auch eine gefährliche Seite. Menschen neigen dazu, andere Individuen zu meiden, die Anzeichen von Krankheiten aufweisen. Der Einsatz von Abscheu gegen Menschen, deren Verhalten als gefährlich für die Gemeinschaft bezeichnet wird, kann deshalb leicht zum Schüren von Vorurteilen eingesetzt werden. Allzu leicht können solche Gefühle die Stigmatisierung von Fremden, Homosexuellen, Obdachlosen, Fettleibigen und allen möglichen Gruppen rechtfertigen.

Der medizinische Fortschritt hat sehr viel erreicht im Kampf gegen Infektionskrankheiten, auch im Falle von Aids. Dank Medikamenten bricht die Krankheit nicht mehr aus, die Betroffenen stecken niemanden mehr an. Jetzt geht es darum, mit der Krankheit auch die Stigmatisierung und die Diskriminierung zu überwinden. Das braucht Zeit, aber die bisherigen Erfolge im Kampf gegen Aids geben Anlass zu Optimismus.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 25. November 2018

Die Gefahren des Schweizer Medizintourismus

Der Diktator nahm Schweizer Ingenieure in Tripolis als Geiseln und stellte an die Generalversammlung der UNO den Antrag, die Schweiz sei aufzulösen und unter den Nachbarländern aufzuteilen. Nach fast zwei Jahren durfte die letzte Geisel ausreisen. Die Geschäftsprüfungskommission des Ständerats kritisierte das Verhalten des Bundesrats in der Libyen-Krise scharf. In einem Klima des Misstrauens seien Einzelkämpfer am Werk gewesen. Schlecht weg kamen der damalige Bundespräsident Hans-Rudolf Merz, der im August 2009 für ein Abkommen nach Tripolis gereist war, sowie Aussenministerin Micheline Calmy-Rey und Verteidigungsminister Ueli Maurer, die ohne Rücksprache mit dem Gesamtbundesrat geheime Pläne zur Befreiung der Geiseln vorbereitet hatten.

Wie nebenstehende Recherchen zeigen, kamen nach dem Sturz des Diktators womöglich erneut schwierige Patienten zur Behandlung aus Libyen in die Schweiz: Jetzt sind es Jihadisten, die den Schweizer Medizintourismus zu schätzen wissen. Dank Anwaltskanzleien, Banken und Spitälern, die ihre Kunden nicht allzu genau unter die Lupe nehmen, können sie ungestört die Dienste von Schweizer Luxuskliniken in Anspruch nehmen. Hoffen wir, dass die Behörden in der neuen Libyen-Affäre klüger vorgehen als vor zehn Jahren. Der Vorgang zeigt, dass die vom Bundesrat kürzlich vorgeschlagene Verschärfung der Anti-Geldwäsche-Regeln dringlich ist. Sie dehnt die Sorgfaltspflichten auf gewisse Tätigkeiten von Anwälten und Beratern aus und erschwert es diesen, Briefkastenfirmen für heikle Kunden mit dubiosen Geschäften zu unterhalten.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 10. Juni 2018

Propaganda für die Kuhmilch genügt nicht mehr

In den 1960er-Jahren erwachte der Widerstand. Vereinzelte Ärzte zweifelten am Nutzen der Pausenmilch, Erzieher wehrten sich gegen die Propaganda in der Schulstube, Umweltschützer kritisierten den Tetrapackabfall. Und vor allem verweigerten sich immer mehr Schüler dem Wundertrank.

Die Propagandazentrale, die heute Swissmilk heisst, versuchte den Widerstand mit Ovomaltine, Vanille- und Erdbeer-Shakes zu brechen. Doch Zucker in der Schule geht natürlich gar nicht mehr. Am letztjährigen «Tag der Pausenmilch» wurde wieder ausschliesslich «Milch nature» ausgeschenkt.

Gegen die Unlust auf Milch nützt auch die anhaltende Propaganda der Milchorganisationen wenig. Jährlich rund 20 Millionen Franken stecken Produzenten und Bund in die Absatzförderung von Milchprodukten. «Eine nachhaltige Wirkung in Bezug auf das Konsumverhalten ist nicht festzustellen», hielt der Bundesrat vor einem Jahr klipp und klar fest.

Milch ist längst kein Nationalgetränk mehr. Der Konsum geht stetig zurück. Noch nie tranken Schweizerinnen und Schweizer so wenig Milch wie im Jahr 2017. Veränderte Konsumgewohnheiten, Kritik an der Tierhaltung, Diäten und ein zunehmender Gesundheits- und Ernährungswahn machen es dem einstigen Nationalgetränk schwer. Manche Eltern nehmen gar lieber Fehlernährungen in Kauf, als ihren Kindern Kuhmilch zu geben.

Nun will die Milchwirtschaft mit einer neuen Werbestrategie das Image der Kuhmilch aufpolieren. Ob es gelingt, ist fraglich. Die nach wie vor auf Hochleistung ausgerichtete Milchwirtschaft entspricht bei weitem nicht dem Ideal einer nachhaltigen Produktion. Propaganda verfängt da längst nicht mehr.

Der nächste «Tag der Pausenmilch» findet am 13. November statt. Vielleicht wäre es nach 100 Jahren mal Zeit füretwas Neues.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 13. Mai 2018

Der Arztberuf muss familienfreundlicher werden

Die Unterschiede zwischen den Branchen sind allerdings beträchtlich. Frauen wählen bevorzugt Stellen, die relativ gut mit der Kinderbetreuung kompatibel sind. Sie suchen vor allem mehr zeitliche Flexibilität. Für Lohn und Karriere ist das nicht förderlich, besonders in Berufen, die ständige Erreichbarkeit, lange Präsenzzeiten und viele Reisen bedingen – wie zum Beispiel manche Jobs in Anwaltskanzleien, Finanz- oder Beratungsunternehmen.

Unter den hoch bezahlten Jobs in den USA hat sich dabei in den vergangenen Jahrzehnten die Pharmazie zum Beruf mit den geringsten Geschlechterdifferenzen entwickelt – sowohl betreffend Lohn als auch hierarchischer Stellung, wie die Harvard-Professoren Claudia Goldin und Lawrence F. Katz feststellen. Frauen sind hier heute auch in Leitungspositionen übervertreten und ebenso gut bezahlt wie Männer.

Das war nicht die Folge von neuen Gesetzen oder Quoten, sondern von einer Reihe von strukturellen Veränderungen und Anpassungen in den Unternehmen. Die technologische Entwicklung in Spitälern und Gesundheitsunternehmen machte flexibles Arbeiten auf diesem Gebiet nicht nur sehr viel produktiver, sondern auch sehr viel familienfreundlicher.

Die Voraussetzungen, um Arbeit und Familie für Mütter und Väter besser in Einklang bringen zu können, wären auch in Schweizer Spitälern überdurchschnittlich günstig. In der Pflege haben sich Jobsharing, Teilzeitarbeit und flexible Arbeitsorganisationen schon durchgesetzt. Bei den Ärzten scheinen die Schweizer Spitäler noch nicht so weit zu sein.

Mittlerweile erwerben in der Schweiz mehr Frauen als Männer einen Facharzttitel, 2017 machten sie bereits 59 Prozent aus. Die staatlich finanzierte Ausbildung ist teuer, wir haben zu wenig Fachkräfte und holen sie zu einem grossen Teil aus dem Ausland. Es wäre dumm, das Potenzial der Frauen nicht zu nutzen. Die Spitäler werden nicht darum herumkommen, ihre Organisation, Abläufe und Arbeitskultur zu überdenken – und so für Mütter und Väter familienfreundlicher zu werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 22. April 2018

Das Gesundheitswesen krankt an mangelnder Transparenz

Das Schweizer Gesundheitssystem kostet total gegen 80 Milliarden Franken pro Jahr (davon in der obligatorischen Grundversicherung knapp 30 Milliarden). Das macht pro Kopf gegen 10 000 Franken beziehungsweise fast 800 Franken pro Monat. Und die Kosten steigen Jahr für Jahr, wie wir an den Prämienrechnungen der Krankenkasse ablesen können.

Und was kriegen wir dafür? Qualität ist im Gesundheitswesen nicht leicht messbar. Aber die stark gestiegene Lebenserwartung gibt immerhin einen Hinweis. Und die nackten Zahlen zur Sterblichkeit belegen einen erstaunlichen Fortschritt. Bei manchen Todesursachen ging die Sterblichkeit um über die Hälfte zurück, so bei Kreislaufkrankheiten, Infektionen, Krankheiten der Atmungsorgane oder bei Unfällen. Die Sterbeziffer bei Krebs sank um 38 Prozent, bei Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes und Unfällen ging sie um mehr als die Hälfte zurück.

Der Fortschritt im schweizerischen Gesundheitswesen ist offensichtlich gross. Wie die Infografik rechts zeigt, sind die häufigsten Todesursachen aber nicht unbedingt auch die teuersten Krankheiten. Zwar verursacht die häufigste Todesursache – Herz-Kreislauf-Krankheiten – tatsächlich auch am meisten Kosten. Aber trotz teurer Medikamente folgt die zweithäufigste Todesursache Krebs erst an siebter Stelle, wenn es um die Kosten geht. Die Häufigkeit und die oft jahrelang notwendige Behandlung bei Rückenproblemen, Diabetes oder bei psychischen Krankheiten machen diese zu ganz gewichtigen Kostenblöcken.

Das Gesundheitswesen ist ein hochkomplexes System mit vielen Mitspielern, unterschiedlichen Interessen und grosser politischer Relevanz. Das macht Reformen, die das Kostenwachstum bremsen könnten, schwierig. Es gibt noch zu wenig Transparenz über die Qualität und die Kosten der Leistungen, es mangelt an unabhängiger Forschung, an Daten und anerkannten Qualitätsindikatoren.

Und noch etwas: Am letzten Sonntag veröffentlichten wir einen umfassenden Altersheimreport, für den wir Daten über alle 1552 Altersund Pflegeheime der Schweiz ausgewertet haben. Dabei zeigte sich, dass in den letzten Jahren vielerorts qualifiziertes Personal abgebaut und durch Hilfskräfte ersetzt wurde, aus Kostengründen und wegen Fachkräftemangel.

Der Bericht hat bei unseren Leserinnen und Lesern grosse Aufmerksamkeit erregt und zahlreiche Reaktionen ausgelöst, auch bei Behörden, Heimleitern und Politikern.

Die Debatte um Missstände in der Altenpflege, steigende Kosten und die notwendige Finanzierung muss jetzt geführt werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 8. April 2018

Was Boxer von Organspendern unterscheidet

Mehr als 100 Millionen TV-Zuschauer sahen sich die diesjährige Superbowl an, das Finalspiel im American Football. Football ist der populärste und lukrativste Sport in den USA. So populär und lukrativ, dass man Kollateralschäden in Kauf nimmt. Keine Sportart verzeichnet mehr Gehirnverletzungen. In 110 von 111 untersuchten Gehirnen ehemaliger Profispieler wiesen Forscher die Gehirnerkrankung Chronisch-traumatische Enzephalopathie nach.

Football-Profis gehen das Risiko freiwillig ein – und sie werden gut dafür bezahlt. Dieses Argument gilt anderswo jedoch nicht: So ist es verboten, Nierenspender für ihre gute Tat zu bezahlen. Ende 2017 standen in der Schweiz 1556 Patienten auf der Warteliste für eine Spenderniere, fast 30 Prozent mehr als vor fünf Jahren. Sie müssen sich einer aufwendigen, schmerzhaften und teuren Blutwäschetherapie unterziehen. Für manche ist das Warten tödlich. 2017 starben 26 Patienten auf der Warteliste.

Warum zahlen wir Football-Profis, die uns unterhalten, verbieten aber die Entschädigung von Spendern, die Leben retten? Das fragen die US-Professoren Kimberley Krawiec und Philip Cook in einer kürzlich veröffentlichten Studie. Gegen die Bezahlung von Organspendern werden oft ethische Argumente vorgebracht. Der finanzielle Anreiz könne Menschen dazu bringen, gegen ihre eigentlichen Interessen zu handeln, und das führe zur Ausbeutung von Armen. Krawiec und Cook halten dagegen. Die Gesundheitsrisiken einer Profikarriere im Football oder Boxen sind weit grösser als die eines Nierenspenders. Footballer und Boxer kommen oft aus armen Verhältnissen, die meisten sind Schwarze oder Hispanoamerikaner.

Für die Entschädigung von Nierenspendern gibt es sehr viel stärkere Argumente als für die Bezahlung von Profisportlern. Denken Sie daran, wenn Sie sich in 14 Tagen den Boxkampf um den Weltmeistertitel im Schwergewicht zwischen Deontay Wilder und Luis Ortiz anschauen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 18. Februar 2018

Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie diesen Text

Fühlen Sie sich gesund? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als ­«Zustand des vollständigen körperlichen, ­geistigen und sozialen Wohlergehens». Sollten Sie sich jetzt immer noch gesund fühlen: ­Denken Sie an die Erhöhung der Krankenkassenprämie. Spätestens jetzt dürften Sie gemäss WHO-Definition ein wenig krank sein.

Die Schweiz verfügt über eine hochstehende Gesundheitsversorgung. Sie ist auch entsprechend teuer. Nicht alle Leistungen sind dabei wirksam oder effizient. Experten schätzen, dass vielleicht ein Fünftel der von den Krankenkassen bezahlten Kosten durch mehr Effizienz gespart werden könnte. Dazu ­gehören die schätzungsweise 4 Milliarden Franken, die entstehen, weil Patienten ihre Medikamente nicht oder nicht richtig einnehmen.

Die weiteren Kosten­treiber im Gesundheitswesen sind erkannt. Es sind die Spitäler, in denen die Kosten im ambulanten Bereich, in dem der Patient das Spital gleichentags wieder verlässt, rasant wachsen. Kantonale Eigeninteressen verunmöglichen die Schliessung unrentabler Spitäler. Die hohe Ärztedichte, besonders bei den Spezialärzten, treibt die Kosten ebenso wie Patienten, die für jede Kleinigkeit medizinische Hilfe einfordern. Der Vertragszwang bringt die Krankenkassen dazu, auch mit den teuersten Ärzten zusammenzuarbeiten. Die falschen Anreize für Spitäler, Ärzte, Apotheker, Labors, Therapeuten, Hilfsmittel- und Pharmahersteller führen zu einer Überversorgung. So etwa, wenn Ärzte dank leistungsabhängiger Prämien ihren Lohn durch Mehrbehandlung erhöhen können. Oder wenn die Qualität eines Spitals an der Sterberate gemessen wird, sodass die Ärzte alles unternehmen, um Patienten am Leben zu erhalten.

Das Gesundheitswesen ist ein hochkomplexes System mit vielen Mitspielern mit unterschiedlichen Interessen und grossem politischem ­Einfluss. Reformen, die das Kostenwachstum bremsen könnten, haben es schwer. Das ­Parlament vermag sich oft nur noch auf den kleinsten ­gemeinsamen Nenner zu einigen: die Belastung des Prämien- und Steuerzahlers. Die Kosten ­werden weiter steigen, bis der Unmut der Zahler die Politik zum Handeln zwingt. Ob unter diesem Druck dann gute Lösungen resultieren oder nicht doch eher populistische Schnellschüsse, ist ­offen.

Eine solch pessimistische Einschätzung wäre gemäss WHO-Definition Ihrem Wohlergehen nicht besonders förderlich. Deshalb schliesse ich lieber mit Thomas von Aquin: «Gesundheit ist weniger ein Zustand als eine Haltung, und sie gedeiht mit der Freude am Leben.»

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 21. Januar 2018

Hilfe, die Bauern vergiften uns!

«Pestizide in den meisten Lebensmitteln», meldet das Konsumentenmagazin «Saldo». Die «NZZ am Sonntag» schreibt, «fast 80 Prozent der Lebens­mittel» wiesen Pestizidrückstände auf und bei «knapp 10 Prozent» sei die Konzentration höher als gesetzlich erlaubt. «4 Prozent des Gemüses enthalten gefährlich viel Gift», meldet der «Tages-Anzeiger».

Saldo

Vergiften uns die Bauern? Natürlich nicht. Die Panikmache stützt sich zwar auf die amtlichen Kon­trolleure. Aber diese trifft keine Schuld. Nicht weniger als viermal betonen sie in ihrem jüngsten Bericht (PDF), ihre Daten dürften genau so nicht interpretiert werden. «Saldo» und die «NZZ am Sonntag» unterschlagen die entscheidende Einschränkung, der «Tages-Anzeiger» erwähnt sie immerhin. Denn die Stichprobe der Kontrolleure ist nicht zufällig. In gewissen Fällen werden die Produkte per Schnellmethode geprüft und nur die positiv getesteten Proben ins Labor geschickt. In vielen Fällen beruht die Auswahl auf Verdachtsmomenten. So werden bei Gemüse vor allem Importe aus China, Thailand und Vietnam getestet – sie machen nur 0,8 Prozent des Schweizer Marktvolumens aus. Jedem Statistikanfänger ist klar, dass solche Quoten niemals auf alle Lebensmittel hochgerechnet werden dürfen. Nur Panikmacher können auf die Idee kommen, den Anteil der Kriminellen aufgrund einer Stichprobe im Untersuchungsgefängnis auf die Gesamtbevölkerung hochzurechnen.

Noch nie in der Geschichte war die Lebensmittelsicherheit hierzulande höher. Und noch nie gab es so viele Alarmisten, die mit der Angst der Leute spielen. Sie verschweigen, dass Pestizide auch gegen Pilzbefall eingesetzt werden, um die Menschen vor wirklich gefährlichen Schimmelpilz­giften zu schützen, und dass die Rückstände mit ganz wenigen Ausnahmen in völlig unbedenklichen Mengen vorkommen. Viel realer ist das gesundheitliche Risiko, wenn die Leute wegen der Panikmache auf den Konsum von Gemüse verzichten.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 26. November 2017

Was rasch Abhilfe verspricht, führt auch schnell in die Sucht

US-Präsident Donald Trump hat am Donnerstag den nationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen. Die USA kämpfen seit einigen Jahren mit einem starken Anstieg der Drogentoten. ­Millionen Amerikaner sind süchtig nach Schmerzmitteln oder Heroin, sogenannten Opioiden. Das sind Varianten des Morphiums, neben Heroin vor allem Schmerzmittel wie Tramadol, Fentanyl oder Methadon.

Viele Abhängige sind über verschreibungspflichtige Schmerzmittel in die Sucht gerutscht. Seit den 90er-Jahren wurden die Medikamente relativ locker verschrieben. Täglich sterben in den USA im Schnitt 91 Menschen an einer ­Opioid-Überdosis. Es handle sich um «die schlimmste Drogenkrise in der amerikanischen Geschichte», sagte Trump am Donnerstag. Wie die Krise zu bekämpfen ist, scheint aber unklar. Auf Erfolge im enorm teuren und aufwendigen amerikanischen «Krieg gegen ­Drogen» wartet man seit Jahrzehnten vergeblich.

So weit sind wir in der Schweiz glücklicherweise nicht. Mediziner warnen jedoch auch hierzulande vor einem wachsenden Problem im Zusammenhang mit Drogen und Medikamenten.

Noch vor wenigen Jahren sorgten Jugendliche für Aufsehen, die sich zu Trinkgelagen versammelten. Die Jugend schien zu Binge-Trinkern zu werden, Politiker forderten Massnahmen. Jetzt stellen Statistiker und die Bier-, Wein- und Schnapsverkäufer fest, dass die Jungen weniger trinken als frühere Generationen (SonntagsZeitung). Verantwortlich soll das wachsende Gesundheitsbewusstsein sein. Sich zu betrinken, ist nicht mehr cool.

Dafür wächst der Medikamentenmissbrauch. Für jedes Problem scheint es heute ein Mittelchen zu geben, das rasche Abhilfe verspricht und relativ leicht zu kriegen ist. Dass es sich oft nur um Symptombekämpfung handelt, ist vielen zu wenig bewusst. Wie schnell aus einem Medikamentenkonsum eine Sucht werden kann, ebenfalls.

Gemäss Professor Thomas Krämer, Vize­direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich, konsumieren heute bereits rund zwei Millionen Schweizer starke Schmerzmittel, Schlaf- oder Beruhigungsmittel sowie Aufputschmittel wie Ritalin (SonntagsZeitung). Der Anstieg bei den Führerausweisentzügen nach Drogen- oder Medikamentenkonsum – sie haben letztes Jahr ein neues Rekordniveau erreicht – kann deshalb nicht wirklich überraschen. Eine eingeschränkte Fahrtauglichkeit fällt bei Medikamenten weniger auf als bei Alkohol. Nicht nur, weil man die Fahne nicht riecht.

Vielleicht wird es doch langsam Zeit, dass die selbstfahrenden Autos nicht nur zu reden geben, sondern auch zum Einsatz kommen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 29. Oktober 2017

Konsumenten könnten von Affen lernen

Gesund = teuer: Diese Vorstellung ist tief in unserem  Konsumentenhirn verankert. Wir glauben daran und kaufen entsprechend ein, auch dort, wo es keinerlei Zusammenhang zwischen Preis und Gesundheit gibt, wie drei US-Forscher kürzlich mit einer Serie von Experimenten nachweisen konnten. Verleitet ein höherer Preis zur Annahme,  etwas sei gesünder? Oder führen Hinweise auf gesundheitliche  Aspekte zur Erwartung, der Preis müsse höher sein?

Offenbar funktioniert das Vorurteil in beide Richtungen. So schlossen Testpersonen vom Preis eines Getreideriegels automatisch auf seine gesundheitliche Bekömmlichkeit: je teurer, desto gesünder. Umgekehrt erwarteten sie bei gesund klingenden Inhaltsangaben automatisch einen höheren Preis. Wenn sie für eine Kollegin ein «gesundes» Sandwich mitbringen sollten, wählten sie von zwei ähnlichen Angeboten immer das teurere, unabhängig von den Inhaltsstoffen. Produkte mit als gesund deklarierten Inhalten wurden von den Testpersonen skeptischer beurteilt, wenn sie billiger waren als normale Produkte: Sie trauten der Sache nicht.

Höhere Preise interpretieren wir gerne als positives Signal. Deshalb verwechseln wir leicht Preis und Qualität. Laien wählen selbst bei inhaltlich identischen Produkten wie Salz, Zucker, Backpulver oder Butter tendenziell das  teurere Markenprodukt, während  Experten, zum Beispiel Küchenchefs, die billigere Eigenmarke bevorzugen, (wie diese Studie zeigt). Das machen sich Händler und Marketingleute zunutze. Wer sich nicht auskennt, zahlt einen Preis dafür.

Das ist eine speziell menschliche Eigenschaft, wie Forscher in Experimenten mit Kapuzineraffen zeigten. Die Tiere verstehen Preisunterschiede und den Mechanismus von Kauf und Tausch. Aber unsere Eigenheit, eine Ware nach ihrem Preis zu beurteilen, fehlt ihnen. Das erfordere offenbar «besondere kognitive Fähigkeiten», stellen die Forscher fest. Man könnte das auch anders interpretieren: Die Affen scheinen in dieser Beziehung einfach intelligenter zu sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 22. Januar 2017