Monat: April 2018

Der finnische Traum ist geplatzt

Doch die Euphorie ist verflogen. Die ursprünglichen Pläne, das Experiment 2018 auf arbeitende Personen auszuweiten und zu verlängern, sind vom Tisch. Mehr noch: Finnland macht eine Kehrtwende. Nach einem im Dezember verabschiedeten Gesetz müssen Arbeitslose neu nachweisen, dass sie in den vergangenen drei Monaten mindestens 18 Stunden gearbeitet haben, um das volle Arbeitslosengeld zu erhalten. Wer keinen solchen Teilzeitjob vorweisen kann, erhält weniger. Das ist die totale Abkehr von der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens.

Die Hoffnungen in das Experiment waren allerdings von Anfang an übertrieben. Es konnte das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens gar nicht testen, weil es auf Arbeitslose beschränkt war – und damit nur ein bedingungsloses Arbeitslosengeld. Ein echtes Grundeinkommen müsste an alle gehen, auch an Leute, die einen Job haben. So, wie das die Initiative beabsichtigt hatte, die vor zwei Jahren von der Schweizer Stimmbevölkerung deutlich abgelehnt wurde. Die Stichprobe von 2000 Personen war ausserdem wohl zu klein, um zuverlässige Aussagen über Verhaltensänderungen und gesellschaftliche Auswirkungen machen zu können. Und vor allem sollte das Geld ja nur zwei Jahre lang fliessen. Die Teilnehmer wussten also, dass sie schon bald wieder in den Ausgangszustand zurückfallen würden. Die Auswirkungen eines solchen Experimentes auf die Arbeitsmotivation und das Arbeitsangebot lassen sich deshalb von vornherein nicht auf ein echtes Grundeinkommen übertragen.

Das finnische Experiment war nicht viel mehr als ein politischer Gag, der einen weltweiten Hype auslöste. Es waroffensichtlich, dass man daraus nicht viel lernen konnte. Höchstens vielleicht, wie man es nicht machen sollte. Wahrscheinlich aber nicht einmal das: Der Gemeinderat der Stadt Zürich hat im November einem SP-Postulat zugestimmt, das einen Pilotversuch für das bedingungslose Grundeinkommen in Zürich verlangt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 22. April 2018

Der Arztberuf muss familienfreundlicher werden

Die Unterschiede zwischen den Branchen sind allerdings beträchtlich. Frauen wählen bevorzugt Stellen, die relativ gut mit der Kinderbetreuung kompatibel sind. Sie suchen vor allem mehr zeitliche Flexibilität. Für Lohn und Karriere ist das nicht förderlich, besonders in Berufen, die ständige Erreichbarkeit, lange Präsenzzeiten und viele Reisen bedingen – wie zum Beispiel manche Jobs in Anwaltskanzleien, Finanz- oder Beratungsunternehmen.

Unter den hoch bezahlten Jobs in den USA hat sich dabei in den vergangenen Jahrzehnten die Pharmazie zum Beruf mit den geringsten Geschlechterdifferenzen entwickelt – sowohl betreffend Lohn als auch hierarchischer Stellung, wie die Harvard-Professoren Claudia Goldin und Lawrence F. Katz feststellen. Frauen sind hier heute auch in Leitungspositionen übervertreten und ebenso gut bezahlt wie Männer.

Das war nicht die Folge von neuen Gesetzen oder Quoten, sondern von einer Reihe von strukturellen Veränderungen und Anpassungen in den Unternehmen. Die technologische Entwicklung in Spitälern und Gesundheitsunternehmen machte flexibles Arbeiten auf diesem Gebiet nicht nur sehr viel produktiver, sondern auch sehr viel familienfreundlicher.

Die Voraussetzungen, um Arbeit und Familie für Mütter und Väter besser in Einklang bringen zu können, wären auch in Schweizer Spitälern überdurchschnittlich günstig. In der Pflege haben sich Jobsharing, Teilzeitarbeit und flexible Arbeitsorganisationen schon durchgesetzt. Bei den Ärzten scheinen die Schweizer Spitäler noch nicht so weit zu sein.

Mittlerweile erwerben in der Schweiz mehr Frauen als Männer einen Facharzttitel, 2017 machten sie bereits 59 Prozent aus. Die staatlich finanzierte Ausbildung ist teuer, wir haben zu wenig Fachkräfte und holen sie zu einem grossen Teil aus dem Ausland. Es wäre dumm, das Potenzial der Frauen nicht zu nutzen. Die Spitäler werden nicht darum herumkommen, ihre Organisation, Abläufe und Arbeitskultur zu überdenken – und so für Mütter und Väter familienfreundlicher zu werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 22. April 2018

Wir müssen die Betreuung der Senioren auf mehr Schultern verteilen

Familienangehörige wenden für die Pflege von Erwachsenen im eigenen Haushalt rund 40 Millionen Stunden im Jahr auf, wie das Bundesamt für Statistik berechnet hat. Das entspricht der durchschnittlichen jährlichen Arbeitsleistung von rund 20 800 Vollzeitangestellten – etwa so vielen Angestellten, wie die Swisscom beschäftigt.

Das ist eine beachtliche Leistung. Dass die grosse emotionale und zeitliche Belastung zu Überforderung führen kann und zu Fehlleistungen verleitet, ist bedauerlich, aber verständlich. Die Anforderungen am Arbeitsplatz sind heute oft höher, die Wege zwischen Wohn- und Arbeitsort länger als früher. Ausserdem gehen die Frauen, die früher einen Grossteil der Betreuung übernahmen, heute einer bezahlten Arbeit nach. Zum Glück sind die Fälle von Verwahrlosung und Misshandlung, die wir im nebenstehenden Bericht schildern, gemessen an der erwähnten Grössenordnung der häuslichen Pflege relativ selten. Wichtig ist, dass die Betroffenen Hilfe holen, bevor etwas geschieht, was sie selber bereuen.

Vertreter von Hilfsorganisationen beobachten jedoch eine Zunahme der Gewalt gegen Senioren als Folge von Überforderung. Dieser Trend wird angesichts der Alterung der Gesellschaft schwer zu stoppen sein. Die Lebenserwartung steigt weiter an, und nun kommen die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer ins Rentenalter. Die Anzahl der 80-Jährigen und Älteren wird in den nächsten zwanzig Jahren in der Schweiz um über 80 Prozent zunehmen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Personen im Erwerbsalter, die Betreuungsaufgaben übernehmen könnten, nur um 7 Prozent. Jede dritte Person über 85 Jahre ist mittel bis schwer pflegebedürftig.

Die Alterspflege steht also vor grossen Herausforderungen. Wir müssen die Pflege auf mehr Schultern verteilen und zum Beispiel auch Jugendliche dafür gewinnen. Das Bundesamt für Gesundheit arbeitet für einen «Aktionsplan pflegende Angehörige» Massnahmen zur Entlastung der Betreuenden aus. So sollen Arbeitnehmer das Recht erhalten, vorübergehend bezahlt freizunehmen, um Verwandte zu pflegen. Und wir müssen das ungelöste Problem der Finanzierung anpacken. Das Fürstentum Liechtenstein hat 2010 das Betreuungs- und Pflegegeld eingeführt, eine finanzielle Unterstützung für Leistungen zu Hause. Vielleicht wäre so etwas auch für die Schweiz sinnvoll. Die Denkfabrik Avenir Suisse schlägt als langfristige Lösung ein obligatorisches individuelles Pflegekapital für die Finanzierung der Alterspflege vor. Das angesparte Geld wäre für die Pflege oder Betreuung, zu Hause oder im Heim, einsetzbar. Die Debatte darüber muss jetzt beginnen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 15. April 2018

Das Gesundheitswesen krankt an mangelnder Transparenz

Das Schweizer Gesundheitssystem kostet total gegen 80 Milliarden Franken pro Jahr (davon in der obligatorischen Grundversicherung knapp 30 Milliarden). Das macht pro Kopf gegen 10 000 Franken beziehungsweise fast 800 Franken pro Monat. Und die Kosten steigen Jahr für Jahr, wie wir an den Prämienrechnungen der Krankenkasse ablesen können.

Und was kriegen wir dafür? Qualität ist im Gesundheitswesen nicht leicht messbar. Aber die stark gestiegene Lebenserwartung gibt immerhin einen Hinweis. Und die nackten Zahlen zur Sterblichkeit belegen einen erstaunlichen Fortschritt. Bei manchen Todesursachen ging die Sterblichkeit um über die Hälfte zurück, so bei Kreislaufkrankheiten, Infektionen, Krankheiten der Atmungsorgane oder bei Unfällen. Die Sterbeziffer bei Krebs sank um 38 Prozent, bei Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes und Unfällen ging sie um mehr als die Hälfte zurück.

Der Fortschritt im schweizerischen Gesundheitswesen ist offensichtlich gross. Wie die Infografik rechts zeigt, sind die häufigsten Todesursachen aber nicht unbedingt auch die teuersten Krankheiten. Zwar verursacht die häufigste Todesursache – Herz-Kreislauf-Krankheiten – tatsächlich auch am meisten Kosten. Aber trotz teurer Medikamente folgt die zweithäufigste Todesursache Krebs erst an siebter Stelle, wenn es um die Kosten geht. Die Häufigkeit und die oft jahrelang notwendige Behandlung bei Rückenproblemen, Diabetes oder bei psychischen Krankheiten machen diese zu ganz gewichtigen Kostenblöcken.

Das Gesundheitswesen ist ein hochkomplexes System mit vielen Mitspielern, unterschiedlichen Interessen und grosser politischer Relevanz. Das macht Reformen, die das Kostenwachstum bremsen könnten, schwierig. Es gibt noch zu wenig Transparenz über die Qualität und die Kosten der Leistungen, es mangelt an unabhängiger Forschung, an Daten und anerkannten Qualitätsindikatoren.

Und noch etwas: Am letzten Sonntag veröffentlichten wir einen umfassenden Altersheimreport, für den wir Daten über alle 1552 Altersund Pflegeheime der Schweiz ausgewertet haben. Dabei zeigte sich, dass in den letzten Jahren vielerorts qualifiziertes Personal abgebaut und durch Hilfskräfte ersetzt wurde, aus Kostengründen und wegen Fachkräftemangel.

Der Bericht hat bei unseren Leserinnen und Lesern grosse Aufmerksamkeit erregt und zahlreiche Reaktionen ausgelöst, auch bei Behörden, Heimleitern und Politikern.

Die Debatte um Missstände in der Altenpflege, steigende Kosten und die notwendige Finanzierung muss jetzt geführt werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 8. April 2018

Ein unschönes Überraschungsei für Steuerzahler

Wir essen im Schnitt 177 Eier pro Jahr, also fast jeden zweiten Tag eines. Gut sechzig Prozent stammen von Schweizer Hühnern, die im vergangenen Jahr 923 Millionen Eier legten – ein Rekord. An Ostern steigt der Verbrauch markant. Jetzt sind die meisten der schön gefärbten Eier «getütscht» und verspeist. Die meisten Konsumenten werden wohl für eine Weile etwas schneller am Eierregal vorbeigehen.

Doch die Hühner legen munter weiter. Unternehmer erhöhen die Preise, wenn die Nachfrage steigt, und sie senken sie, wenn sie ein Überangebot loswerden müssen. Doch in der Schweizer Landwirtschaft gelten eigene Regeln. Da ruft jede Überproduktion sogleich nach einer Subvention. Gemäss eidgenössischer «Eierverordnung» treffen sich deshalb alljährlich um Ostern herum die Eierproduzenten, -verarbeiter und -händler beim Bundesamt für Landwirtschaft und machen unter sich aus, wie das Geld aus dem Kredit verteilt werden soll, den das Parlament bewilligt hat. Man wird sich schnell einig, denn die einzigen, die nicht am Tisch sitzen, sind jene, die die Zeche zahlen müssen.

2017 waren es 1,9 Millionen Franken, in diesem Jahr hat man auf 2 Millionen aufgerundet. Damit zahlt der Bund in einer sogenannten Aufschlagaktion für jedes aufgeschlagene Ei 9 Rappen an die Nahrungsmittelindustrie, die Eiweiss und Eigelb getrennt zu verschiedenen Eierprodukten verarbeitet. In einer Verbilligungsaktion zahlt der Bund ausserdem 5 Rappen pro Ei an die Händler, die die Eier zum Aktionspreis verkaufen. Vom Verkaufspreis eines Eis bleibt dem Produzenten etwa ein Drittel bis die Hälfte, dem Detailhandel der Rest.

So wird Überproduktion belohnt, und die Rechnung geht für alle auf – ausser für die Steuerzahler. Wenn Sie also vom 8. Juni bis 28. Juli und vom 31. August bis 29. September Schweizer Eier mit 5 Rappen Rabatt kaufen, freuen Sie sich nicht zu sehr. Sie haben die «Aktion» mit Ihren Steuern selbst finanziert.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 8. April 2018