Monat: April 2016

Manchmal bin ich schon am Morgen müd’

18.4.2016 / Armin Müller

Gibt es Tage, an denen Sie sich schon müde fühlen, bevor Sie zur Arbeit gehen? Reagieren Sie manchmal mürrisch, wenn andere Sie ansprechen? Mit solchen Fragen fanden Meinungsforscher in einer Internetumfrage Dramatisches heraus. 22,5 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung haben Stress!

Das ruft nach sofortigen staatlichen Massnahmen. Da trifft es sich gut, dass die Auftraggeberin der Studie die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz ist. Denn sie hat die Aufgabe, «Massnahmen zur Förderung der Gesundheit und zur Verhütung von Krankheiten anzuregen, zu koordinieren und zu evaluieren.»

Sie hat ein geniales Geschäftsmodell. Jede Person in der Schweiz unterstützt sie via Krankenkasse mit einer Zwangsabgabe von monatlich 20 Rappen. Das Geld fliesst somit reichlich und unabhängig vom Nutzen der unzähligen Hochglanzbroschüren und Sensibilisierungskampagnen. Denn «anzuregen, zu koordinieren und zu evaluieren» gibt es nie genug. Deshalb will der Bundesrat den Beitrag der Prämienzahler an die Stiftung verdoppeln, wie er am Freitag bekannt gab.

Die Stressumfrage illustriert, wie das Perpetuum mobile in Gang gehalten wird. Onlineumfragen produzieren Zahlen, die sich auf die Bevölkerung hochrechnen lassen, was alarmistische Medienberichte provoziert, womit sich wiederum Werbung machen lässt in eigener Sache – für mehr Geld, mehr Umfragen, mehr Präventionskampagnen. Folgerichtig führt die Stiftung ihren «JobStress-Index» nun jedes Jahr durch. Dass die Zahl der Gestressten im letzten Jahr unerklärlicherweise deutlich zurückging, sollte also in den nächsten Jahren korrigiert werden können.

Dank Gesundheitsförderung Schweiz wissen wir nun, was Peter Maffay schon 1980 in seinem Song «Über sieben Brücken musst du gehn» konstatierte: «Manchmal bin ich schon am Morgen müd’.»

Glückliche Schweiz. Wir können es uns leisten, mit grossem Aufwand festzustellen, dass Arbeit manchmal müde macht. In anderen Ländern weiss man: Keine Arbeit zu haben, macht wirklich krank.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 17. April 2016

Swissair, UBS, Hildebrand

4.4.2016 / Armin Müller

Wir haben die Affäre um den Nationalbankpräsidenten ungenügend verarbeitet. Das ist ein wiederkehrendes Muster in der Schweiz.

Mit dem Prozess gegen einen Bankmitarbeiter und einen Anwalt vor dem Bezirksgericht Zürich kommt die Affäre Hildebrand zu ihrem Abschluss. Ob die beiden wegen Bankgeheimnisverletzung verurteilt werden, bleibt bis zur Urteilsverkündung offen. Ein Fazit kann trotzdem schon gezogen werden: Die Schweiz hat die Affäre schlecht verarbeitet. Vor Gericht stehen die Falschen.

Im Interesse der Glaubwürdigkeit der Nationalbank, einer der wichtigsten Institutionen, hätte man der Sache auf den Grund gehen müssen. Stattdessen wurde intrigiert, vertuscht und Politik gemacht. Die involvierten Persönlichkeiten, die Politik, die Nationalbank, aber auch die Medien: Sie alle machten keine gute Figur.

Der damalige Nationalbankpräsident Philipp Hildebrand und seine Frau tätigten 2011 Devisentransaktionen im Umfang von rund 400 000 Franken. Als die Nationalbank am 6. September die Einführung eines Euro-Mindestkurses beschloss, resultierte daraus ein Gewinn von rund 70 000 Franken. Dass solch ein Gebaren mit der Glaubwürdigkeit der Nationalbank absolut unvereinbar sein muss, ist offensichtlich.

Dass die mit dem Vorgang vertrauten Mitarbeiter bei der Bank Sarasin nichts unternahmen, wirft kein gutes Licht auf die Compliance der Bank. Dass Reto T., der jetzt vor Gericht steht, die Informationen einem befreundeten Anwalt gab statt den zuständigen Stellen der Bank, war ein Fehler, der ihm die Karriere zerstörte.

Aber ohne den Whistleblower wäre die Sache unter den Teppich gekehrt worden. Hildebrand und seine Berater versuchten aus dem Skandal eine Affäre Blocher zu machen. Wie so oft, wenn Christoph Blocher involviert ist, wich die nüchterne Analyse der Fakten dem politischen Schlagabtausch. Hildebrands Transaktionen traten in den Hintergrund. Jetzt ging es um Blocher gegen Nationalbank und «Weltwoche» gegen Mainstream-
Medien. Der flugs bestellte Prüfbericht der Revisionsgesellschaft PWC kam mit zweifelhaften Begründungen zum Schluss, dass Hildebrand das Nationalbankreglement nicht verletzt habe.

«Nichts von öffentlichem Interesse wurde in diesem Fall umfassend und gewissenhaft untersucht»

Nichts von öffentlichem Interesse wurde in diesem Fall umfassend und gewissenhaft untersucht: weder die Rolle der Hildebrand-Berater noch jene Christoph Blochers, weder das Verhalten des Bankrats noch jenes der Bank Sarasin – und schon gar nicht der Auslöser der Affäre, die Deals der Familie Hildebrand.

Nach seinem Rücktritt untersuchten Revisoren von KPMG im Auftrag des Bankrats zwar sämtliche Banktransaktionen der Mitglieder des erweiterten Direktoriums. Ausgenommen von der Prüfung waren zuerst – kein Witz – ausgerechnet die Transaktionen von Frau Hildebrand. Erst nachträglich wurden sie doch noch geprüft. Allerdings wurden dabei andere, deutlich weichere Kriterien angewandt als bei den übrigen Beteiligten. So wurden Devisengeschäfte erst ab 20 000 Franken geprüft statt ab 1000, und andere Finanztransaktionen erst ab 100 000 Franken.

Dafür sammelte die Zürcher Justiz offenbar die Telefondaten der Kontakte zwischen Blocher und Journalisten, und zwar schon bevor Blocher von Hildebrands Transaktionen erfuhr, wie der «Tages-Anzeiger» kürzlich aufdeckte.

So stellt man offenbar hierzulande verlorenes Vertrauen wieder her. Dabei wäre eine sachliche Aufarbeitung wichtig, viel wichtiger als die juristische. In den USA werden Skandale gründlich untersucht und mit einem öffentlichen Bericht abgeschlossen, damit man daraus für die Zukunft lernt. In der Schweiz gibt es das leider nicht.

Die Bürger dürfen nicht erfahren, wie es genau zum Swissair-Grounding kam, zur UBS-Rettung oder zum Steuerstreit mit den USA und wer letztlich für was verantwortlich war.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 3. April 2016, (jener Text enthielt einen Fehler, der hier berichtigt wurde).

Wenn Geld und Ideen auswandern

4.4.2016 / Armin Müller

Frankreich steht auf Rang 1, gefolgt von China, Italien, Indien, Griechenland und Russland: Welche Rangliste könnte solch ein Resultat liefern?

Es sind die Länder, die im letzten Jahr am meisten Millionäre verloren haben. 2015 sind rund 10 000 Millionäre mehr aus Frankreich weg- als zugezogen. China verlor per Saldo 9000 und Italien rund 6000 Millionäre. Den stärksten Netto-Zustrom verzeichneten dagegen Australien, die USA, Kanada und Israel. Das berichtet das südafrikanische Beratungsunternehmen New World Wealth. Die Firma befragt Reiche zu deren Domizil, interviewt Migrationsexperten und wertet Visa-Statistiken aus, um die internationale Migration von sehr Vermögenden nachzuverfolgen.

Frankreich führt die Rangliste seit Jahren an, sein Spitzenplatz kommt nicht von ungefähr. Dabei spielt der Spitzensteuersatz von 75 Prozent, den die sozialistische Regierung von François Hollande 2013 einführte, gar nicht mal die grösste Rolle. Es sind der Mangel an Möglichkeiten und Chancen, der wirtschaftliche Niedergang und die zunehmenden politischen oder religiösen Spannungen, welche die Leute vertreiben.

Am grössten ist die Perspektivlosigkeit bei den Jungen. Im Gegensatz zu den Reichen können sie nicht einfach wegziehen. Aber auf die Frage, ob sie Frankreich verlassen würden, wenn sie könnten, antwortete 2013 die Hälfte der 18- bis 34-Jährigen mit «Oui».

Es sind wohl nicht die Gleichen, die am Donnerstag in vielen französischen Städten auf die Strasse gingen, um gegen die geplante Arbeitsmarktreform der Regierung zu protestieren. Die Gewerkschaften bestreiken Bahnen, Flughäfen, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und Medienunternehmen. Von den Reformen dürfte am Schluss nicht viel übrig bleiben.

Mit den Jungen und dem Kapital gehen aber auch Ideen und Unternehmertum, die Frankreich dringend braucht. Der Auszug der Millionäre hilft den Sozialisten zwar in ihrem zentralen Kampf gegen die Ungleichheit, denn weniger Reiche bedeuten statistisch mehr Gleichheit. Nur den übrigen Franzosen geht es deswegen keinen Deut besser.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 3. April 2016