Monat: Juli 2016

Monster stossen ein Fenster zur Zukunft auf

25.7.2016 / Armin Müller

Es ist ein phänomenaler Erfolg. «Pokémon Go» bricht alle Rekorde. Nie wurde eine Handy-App in der ersten Woche so häufig heruntergeladen wie das neuste Spiel von Nintendo. Durchschnittlich 33 Minuten täglich jagen die Spieler den niedlichen Monstern hinterher. Das ist mehr Zeit, als die Handynutzer mit Whatsapp, Facebook, Snapchat oder Twitter verbringen. Experten schätzen die Einnahmen aus dem Spiel auf etwa 25 Rappen pro Tag pro aktiven Spieler. Die Monster schlagen alles bisher Dagewesene. Seine Bedeutung geht jedoch weit über das Spiel hinaus. Wir werden in den nächsten Jahren eine Welle von Apps sehen, die unser Leben mit erweiterter Realität anreichern. Die von der Handykamera aufgenommene Umgebung wird bald nicht nur von Pikachu, Mauzi und anderen Fantasiefiguren bevölkert sein, sondern von Menschen und Objekten.

Ein Feuerwehrmann wird im brennenden Gebäude nicht nur Mauern, Feuer und Rauch sehen, sondern den Gebäudeplan, zu rettende Opfer, die herrschenden Temperaturen und mögliche Fluchtwege. Virtuelle Plakate und Verkehrsschilder werden uns den Weg weisen. In Tokio werden wir die japanische Speisekarte via Handykamera auf Deutsch lesen können. Der Monteur vor Ort wird sich die nächsten Arbeitsschritte ins Sichtfeld einblenden lassen, der Arzt die Informationen aus Tomografen und Ultraschallgeräten. Historische Persönlichkeiten werden uns durchs Museum führen.

Die Technik der erweiterten Realität ist nicht neu. Aber erst «Pokémon Go» macht sie für Millionen frei zugänglich und nutzbar. Das hat etwa Google Glass nicht geschafft. Das Spiel öffnet damit ein Fenster in die Zukunft. Man wird sich später einmal daran erinnern, weil es für die allermeisten Nutzer das erste Mal war, dass sich die reale Welt einleuchtend mit der virtuellen vermischte.

«Pokémon Go» ist nur ein Spiel, und der Hype mag vielleicht schnell wieder vorbei sein. Aber die Technologie dahinter wird unsere Wahrnehmung der Welt verändern.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Sonntagszeitung vom 24. Juli 2016

Gefangen in der Einheitswährung

18.7.2016 / Armin Müller

Und wieder wanken in Europa die Banken. Die Aktien von Unicredit, Deutsche Bank, BNP Paribas, Santander oder Credit Suisse haben in den letzten Wochen massiv an Wert verloren. Knapp acht Jahre nach Lehman Brothers haben manche der europäischen Grossbanken noch immer zu wenig Kapital. In Italien wird der Staat für die Rettung aufkommen müssen. Die faulen Kredite in den Bankbilanzen sind schon lange bekannt. Die italienische Regierung und die Behörden der Eurozone haben die Sanierung hinausgezögert bis zum Gehtnichtmehr.

Die neue Bankenkrise ist aber nicht nur die Folge von Managementfehlern und politischer Nachlässigkeit. Wenn die Wirtschaft nicht wächst, können angeschlagene Banken nicht gesunden. Die italienische Wirtschaft hat sich von den zwei schweren Rezessionen seit 2008 nicht erholt. Die Arbeitsproduktivität sinkt, das Bruttoinlandprodukt pro Kopf ist heute tiefer als 2008.

Das Land kann seine Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr über eine Abwertung der Währung verbessern, sondern nur über sinkende Löhne. Wie Griechenland bleibt auch die drittgrösste Volkswirtschaft der Eurozone in der Einheitswährung gefangen. Wie der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf 1995 gewarnt hat, begeben sich schwache Länder in einer Währungsunion auf die Stufe einer Kolonie. Das Schicksal der Regierung Renzi wird in Brüssel, Berlin und Paris entschieden, nicht in Rom.

Die Eurozone leidet weiter an ihrem Geburtsfehler. Eine Währungsunion kann nicht funktionieren ohne starke Koordinierung der Steuer-, Finanz- und Haushaltspolitik ihrer Mitgliedsländer. Doch spätestens der Brexit hat klargemacht, dass eine weitere Integration mit den Bürgern nicht mehr zu machen ist.

«Scheitert der Euro, dann scheitert Europa», erklärte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel vor sechs Jahren. Was für eine Fehleinschätzung. Europa scheitert am Euro.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 17. Juli 2016

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

10.7.2016 / Armin Müller

110 Nobelpreisträger fordern Greenpeace in einem offenen Brief dazu auf, den Widerstand gegen gentechnisch veränderte Pflanzen, insbesondere gegen den «Goldenen ­Reis», aufzugeben. An einer Pressekonferenz am 30. Juni in Washington stellten sie ihr Anliegen vor und fragten: «Wie viele arme Menschen in der Welt müssen noch sterben, bevor wir die Verhinderung von Gentechpflanzen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstufen?»

Wegen Vitamin-A-Mangel erblinden jedes Jahr 250’000 bis 500’000 Kinder. Die Hälfte davon stirbt innerhalb von 12 Monaten nach der Erblindung. Der an der ETH Zürich entwickelte ­«Goldene ­Reis» produziert das Eiweiss Beta-Carotin, das unser Körper in Vitamin A umwandeln kann und könnte helfen, diese Tragödie zu verhindern. Aber Greenpeace und Co. stecken Millionen in ihre Kampagnen, um dies zu verhindern. Der Kampf gegen Gentech ist schliesslich ein Spendenmagnet.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit – bei jeder anderen Organisation würde ein einzelner Nobelpreisträger genügen, um mit dem Vorwurf einen medialen Sturm zu entfachen. Selbst die mächtigsten Konzerne der Welt müssten sich der Kritik stellen und ihre Politik überarbeiten.

Nicht so Greenpeace, da reichen auch 110 Nobelpreisträger nicht aus. Greeenpeace ist eine gut geölte PR-Maschine. Der globale Konzern ist in 55 Ländern vertreten. 107 Millionen Euro, mehr als ein Drittel seiner Einnahmen, gibt er allein für Fundraising aus. Wo auch immer die PR-Profis ein Transparent aufhängen sind wir Medien zur Stelle und verbreiten ihre Botschaft flächendeckend.

Aber Kritik an Greenpeace ist praktisch tabu. Geht es um das Verhalten der Umweltschützer selbst, meldet sich unser sonst so kritischer Verstand ab. Die SDA-Meldung veröffentlichten einzig die NZZ und der Berner “Bund”, in einer stark gekürzten Version, ohne den Vorwurf der «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» zu erwähnen. SRF brachte die Meldung nicht etwa in der Tagesschau oder in den Nachrichten, sondern verbannte sie ins Randprogramm «Kultur Kompakt» auf SRF2. ­Die NZZ ­berichtete immerhin eine Woche später ­ausführlich.

Dass Greenpeace im Kampf um Spenden, Macht und Einfluss über Leichen geht, ist zynisch. Dass wir Medien das Spiel mitmachen, ist ein Skandal.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 10. Juli 2016

Mit Köpfchen gegen Hacker

10.7.2016 / Armin Müller

«Wir stehen unter Angriff», sagte Generalstabsoberst Gérald Vernez kürzlich einem Reporter dieser Zeitung. Der für die Cyber-Kriegsführung der Armee Verantwortliche sieht grosse Gefahren in der Cyberkriminalität auf uns zukommen. Er plädiert deshalb dafür, dass Cyberspezialisten des Bundes zum Gegenangriff übergehen. Die Verfolgung von meist aus dem Ausland agierenden Internetkriminellen ist extrem schwierig. Nun erhält Vernez Sukkurs aus der Wissenschaft.

Passwörter, Benutzernamen, Kreditkartendaten oder Sozialversicherungsnummern verkaufen die Hacker üblicherweise auf Untergrund-Onlineplattformen an andere Kriminelle weiter. Die Käufer nutzen die gestohlenen Daten für Einkäufe, Geldüberweisungen und Erpressungen. Dass sich das lohnt, zeigen Untersuchungen von Thomas Holt, ausserordentlicher Professor für Strafjustiz an der Michigan State University. In 320 untersuchten Transaktionen kassierten die Verkäufer zwischen 1 und 2 Millionen Dollar. In 141 davon ergaunerten sich die Käufer mit den Daten zwischen 1,7 und 3,4 Millionen Dollar, wie Holt auf der Wissenschaftsplattform «The Conversation» ausführt. Kein Wunder, häufen sich Hackerangriffe weltweit.

Die Marktplätze für Cyberkriminelle funktionieren ähnlich wie Amazon oder Ebay. Nach Abschluss des Geschäfts bewerten sich die Parteien gegenseitig. So vermindern sie das Risiko, hereingelegt zu werden. Zur Polizei gehen können sie schliesslich nicht. Weil die traditionelle Strafverfolgung bei Hackern rasch an Grenzen stösst, empfiehlt Holt, die Gauner mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Käufer und Verkäufer sollten mit falschen positiven und negativen Bewertungen überflutet werden, sodass sie nicht mehr wissen, wem sie trauen können.

Generalstabsoberst Vernez, übernehmen Sie!

Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 10. Juli 2016