Kassandra erhielt in der griechischen Mythologie von Apollon die Gabe der Weissagung geschenkt. Als sie sich von ihm nicht verführen liess, verfluchte er sie, sodass niemand ihren Prophezeiungen Glauben schenkte. Dass sie den Sturz Trojas, ihren eigenen Tod und vieles mehr voraussah, wurde ihr zur Qual.
Wissen zu wollen, was die Zukunft bringt, gilt zwar als natürliche, urmenschliche Eigenschaft. Aber in Wirklichkeit wollen die Menschen oft gar nicht wissen, was sie erwartet. Deshalb ist es heute in Besprechungen üblich, Warnhinweise zu setzen, bevor wichtige Details oder das Ende eines Buchs oder Films verraten werden. Selbst in Risikogruppen verzichten viele auf Tests bezüglich HIV oder Erbkrankheiten. Gentests, die Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Krankheiten verraten, sind kein Renner.
Warum das so ist, untersuchten die beiden Forscher Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut und Rocío García-Retamero von der Universität Granada (hier die Studie). Sie stellten dazu über 2000 Deutschen und Spaniern Fragen zu zukünftigen Ereignissen.
85 bis 90 Prozent der Teilnehmer wollten lieber nichts über negative Ereignisse wissen. Zum Beispiel, wann oder woran sie selber oder ihr Partner sterben oder ob ihre Ehe halten wird. 40 bis 70 Prozent wollten auch nicht über Positives Bescheid wissen, zum Beispiel das Resultat eines Fussballspiels, das sie sich in der Aufzeichnung ansehen wollen, oder den Inhalt von Weihnachtsgeschenken. Nur das Geschlecht des noch ungeborenen Kindes wollten mehr Teilnehmer erfahren als nicht. Menschen, die es vorziehen, die Zukunft nicht zu kennen, kaufen dafür eher Versicherungen als jene, die über ihre Zukunft Bescheid wissen möchten.
Der Mensch verzichtet offenbar gern auf Kassandras Gabe, wenn es um seine persönliche Zukunft geht. Damit will er Leid und Bedauern vermeiden, das das Wissen über die Zukunft verursachen kann. Und er will sich die freudige Spannung erhalten, die positive Erlebnisse bergen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 2. April 2017