Die Religion ist vor allem im Westen seit langem auf dem Rückzug. Jede neue Generation scheint weniger religiös als die vorherige. In einer Untersuchung des Pew Research Center zeigte sich in 46 Ländern ein klarer Altersunterschied: Erwachsene unter 40 Jahren erklärten deutlich seltener als ältere Erwachsene, Religion sei sehr wichtig in ihrem Leben. In 58 Ländern gibt es keinen solchen Altersunterschied, nur in zwei Ländern – Georgien und Ghana – geben sich die Jüngeren im Durchschnitt religiöser als die Älteren.
Zwar glaubt nach wie vor eine Mehrheit der Schweizer an Gott oder an eine höhere Macht. Aber seit 2016 gibt es in der Schweiz mehr Konfessionslose als Reformierte. Seit 1980 hat sich der Anteil der Mitglieder der reformierten Landeskirche fast halbiert, der Anteil der Konfessionslosen versechsfacht. Die reformierte Kirche versucht nun mit einer neuen Verfassung Gegensteuer zu geben. Der Rückgang bei den Katholiken wurde dank Einwanderer abgeschwächt.
Religion «ist das Opium des Volks», erklärte Karl Marx. Lenin machte daraus den Kern marxistischer Religionskritik: Die Religion sei eine Art «geistiger Fusel», erfunden, um die Arbeiter auszubeuten. Doch es stellte sich heraus, dass es ohne Religion noch viel leichter fällt, die Hölle auf Erden zu entfachen. Die Religion wurde durch eine mörderische Ideologie ersetzt. Denn «wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt», wie der russische Dichter Fjodor Dostojewski schon Mitte des 19. Jahrhunderts erkannt hatte.
Natürlich wurde auch viel Unrecht im Namen der Religion verübt. Aber die Errungenschaften der westlichen liberalen Gesellschaft, universale Menschenrechte und individuelle Freiheit haben im Christentum ihr geistiges Fundament. Es postuliert die Gleichwertigkeit aller Menschen, Gewissensfreiheit und die mitmenschliche Verantwortung.
Wir haben einiges zu verlieren, wenn wir die Religion einfach beiseiteschieben. «Die Kirchen sind leer, Gott stirbt», stellte der Schriftsteller Thomas Hürlimann im «Tages-Anzeiger» fest. Das sei eine Entwicklung, die ihn beängstige. Er möchte nicht zurück in den Katholizismus seiner Kindheit, «noch viel weniger möchte ich aber in einer Gesellschaft leben, die sich restlos entsakralisiert und ihre Gläubigkeit auf Moralismus gründet».
Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen Religiosität und Depression: Religiosität scheint gegen Faktoren zu schützen, die Stress auslösen und zu Depressionen führen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass in manchen US-Bundesstaaten der Rückgang der Religiosität parallel zum Anstieg des Opioid-Missbrauchs verläuft. Und Karl Marx mit seinem Bonmot – wenn auch im umgekehrten Sinne – tatsächlich nochmals recht erhält.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 16. Dezember 2018